Zu Beginn möchten wir dir Schwester Ruth Stengel gerne vorstellen. Sie ist 44 Jahre alt und seit 14 Jahren Ordensfrau. Ihre Gemeinschaft gehört zu den Schwestern der Heiligen Maria Magdalena Postel, welche eine apostolisch tätige und internationale Gemeinschaft ist, die in Frankreich nach der Französischen Revolution gegründet wurde.
Aufgewachsen ist Schwester Ruth im Münsterland. Geprägt haben sie die Pfadfinder (DPSG), die Musik, das Engagement in der Schule für Umweltschutz, das Theaterspielen. Nach dem Abitur zog es Schwester Ruth für ein Jahr nach Lateinamerika als Missionarin auf Zeit. Die Erfahrungen in Brasilien haben sie berührt und bewegt und waren für spätere Entscheidungen wie ein Bodensatz. Zum ersten Mal erlebte sie lebendigen Glauben und eine junge Kirche. Schwester Ruth lebte mit Ordensfrauen, die mitten im Leben standen und an der Seite der Armen. Beim Aufbruch dorthin wusste sie noch nicht, was danach aus ihr werden würde. In Brasilien entschied Schwester Ruth sich für ein Studium der Religionspädagogik in Paderborn, dem ein Theologiestudium in Würzburg und Münster folgte. Wissenschaftlich nach Gott und Glauben, nach Menschsein und Sinn zu fragen, war und ist für Schwester Ruth eine Quelle.
Viele berufliche Stationen folgten. Das innere Suchen und die damit verbundene Unruhe nach „meinem Weg mit Gott“ blieb.
Was hat dich dazu bewegt, in den Orden einzutreten?
Wem gehöre ich? Wem will ich mein Herz schenken? Beziehung und Partnerschaft erfüllten mich, aber genauso blieb eine Lücke im Herzen offen – für Gott? Ich entschied mich, die Option Ordensleben zuzulassen, als Experiment: Ich wage den Schritt in den Orden, um endlich zu merken, dass es nichts für mich ist. In diesem Experiment bin ich seit 14 Jahren mit Höhen und Tiefen unterwegs und hätte nie im Leben gedacht, dass die Entscheidung trägt. Mich hat der Gedanke beflügelt, in Gemeinschaft mit gesammelter Kraft Gott und den Menschen zu dienen. Das ich verordnete Zeit und Raum habe zum Beten, für Stille und Meditation, empfinde ich als Geschenk. Es ist aber nicht einfach einlösbar. In meinem aktuellen Beruf als Schulseelsorgerin und Lehrerin an unserem Engelsburg Gymnasium in Kassel kommt jeden Tag das volle Leben daher. Wir wohnen in einem kleinen Pfarrhauskonvent in der Stadt, unsere Klingel ruht selten. Jeden Tag muss ich neu schauen, wie das geht, das Leben. Ich liebe es, in Bewegung zu bleiben, innerlich und äußerlich.
Was war das Besondere an deinem Weg zum Ordensleben?
Ich hätte nie gedacht, dass jemand wie ich eine Berufung zum Ordensleben hat; zu wenig fromm und angepasst, zu wenig in der Lage gehorsam zu sein, zu wenig… Das wollte Gott nicht gelten lassen. Und jetzt stehe ich noch immer da und denke, ich passe nichts ins Bild. Das Gute ist, ich muss es auch nicht.
Sind dir auf deinem Weg im Ordensleben Herausforderungen begegnet?
Ordensleben ereignet sich jeden Tag und damit die Herausforderungen. Besonders schwer wird es, wenn sich Angst über die Zukunft meiner Gemeinschaft einschleicht. Zu wenig junge Schwestern, wenig Dynamik und Kreativität, langsame Prozesse, Schließungen, Abbrüche…. Wer soll das Schiff in zehn Jahren steuern? Keine Ahnung, ich weiß es nicht. Ich muss lernen, jeden Tag möglichst ganz da zu sein und im Vertrauen zu wachsen, dass Gott sorgt. Das ist nicht leicht und manchmal siegt die Angst. Aber öfter überrascht mich Gott mit Neuem, Unverhofftem und dann wächst Hoffnung. Herausfordernd ist es für mich, von vielen Menschen täglich angefragt zu sein und wenige Momente des Alleinseins zu finden. Es ist gut, Jesus als Bruder und Weggefährten an der Seite zu wissen. Mit IHM gehe ich auf den Berg und in die Menge und darf den Rückzug antreten, wenn ein Moment es zulässt.
An welchen Orten und wie tankst du neue Kraft?
Im Wald, an und in der Fulda, auf dem Fahrradweg zur Arbeit, auf meinem Meditationshocker, an unserem Küchentisch, in der Krypta im Bergkloster Bestwig. Mir gibt es Kraft, in Bewegung zu sein, beim Wandern, Joggen, Schwimmen und Tanzen. Musik und Stille sind „Orte“, deren Schwingungen mich erfüllen können.
Was bedeutet Berufung für dich persönlich?
Berufung ist nicht einmal, sondern immer. Berufung ist ein Geschenk, weil ich weiß, dass dieser Gott mich durch und durch will, liebt und kennt. Berufung braucht Resonanz und Offenheit, damit ich verfügbar bleibe. Berufung bedeutet für mich, an viele Grenzen zu stoßen und dabei zu ahnen, dass dahinter etwas oder jemand wartet. Berufung ist eine Aufgabe zur Menschenliebe, die bei Gott anfängt und aufhört.
Was möchtest du Personen mitgeben, die den Wunsch verspüren, ihre Berufung intensiver zu leben?
Was gibt es zu verlieren? Mach den ersten Schritt und lass es zu, dass Gott führt.
Es wird kein „Richtig oder Falsch“ geben, jeder Weg öffnet Perspektiven, Grenzen und Möglichkeiten. Die Sehnsucht, Berufung intensiver zu leben, ist ein Ruf Gottes, dem wir trauen sollten. Gott lockt, wirbt und lässt uns die freie Entscheidung. Gibt es Schöneres?
Und es gibt so viele Wege, Berufung zu leben, ob als Ordensfrau oder Priester, Single oder Ehemann, Krankenschwester oder Busfahrerin. Wenn Gott Raum findet, ist alles gut.